Die Kunst des spielleiterlosen Rollenspiels
BeePeeGee schreibt über die Trennung zwischen Spielleitung und Spielern im Rollenspiel – und wie man diese Trennung auflöst.
1.002 Wörter, ungefähre Lesedauer 5 Min.
Wenn man auf den Geschmack von Erzählspielen kommt, besteht der Reiz gegenüber traditionellen Rollenspielen oft darin, sich als Spieler mehr für die gemeinsame Geschichte des Spiels zu interessieren und weniger auf den „eigenen“ Spielercharakter (SC) zu konzentrieren. Ein naheliegender Schritt dabei ist die Auflösung der Trennung zwischen einer Spielleitung (SL) und den Spielern.
Weg vom Avatarismus, rein in die Erzählung
Es hat bei mir selber einige Zeit gedauert, um mich bei Rollenspielen vom „Avatarismus“ (englisch) zu lösen. Avatarismus bezeichnet die starke Identifikation des Spielers mit einem Spielercharakter. So wird die Spielwelt und das Rollenspiel aus der Perspektive dieses Charakters erlebt und beeinflusst.
Gegen diese Art des Spiels ist nichts einzuwenden. Es erlaubt ein intensives, immersives Erleben. Gleichzeitig gewinnt in Zeiten von Online-Rollenspielen und Virtual Reality vielleicht gerade für Pen-und-Paper-Spieler die gemeinsame, ergebnisoffene Erzählung an Wert.
Persönlich bin ich durch Erzählspiele wie Fiasco (englisch|deutsch) auf den Geschmack gekommen, „meinen“ Spielcharakter auch mal verlieren oder blöd ausschauen zu lassen. Mittlerweile ist es für mich selbstverständlich geworden, neben dem Rollenspielen einer Hauptfigur auch immer wieder die Vogelperspektive der Gesamterzählung einzunehmen.
Alle Macht den Spielern
Bei traditionellen Rollenspielen konzentrieren sich üblicherweise die Spieler auf ihren eigenen Spielercharakter, während die Spielleitung verschiedene Aufgaben übernimmt wie z. B.
- Rollenspielen der Nicht-Spieler-Charaktere (NSC)
- Beschreibung der Settingwelt
- Entwickeln von Erzählsträngen
- Steuern von (Würfel-)Entscheidungen
Ein Übergang zwischen traditionellem Rollenspiel mit fester Spielleitung und völlig spielleiterlosem Spiel stellt das partizipative Rollenspiel dar. Die Spieler bekommen einen gewissen Grad an Player Empowerment (deutsch „Spielermacht“) und können so bestimmte Elemente des Spiels aktiv mitgestalten.
Traditionell | Partizipativ (Player Empowerment) | Spielleiterlos (GMless) |
---|---|---|
Spielleitung (SL) bestimmt Setting, Handlungsrahmen, Nicht-Spieler-Charaktere (NSC), (würfelbasierte) Entscheidungen | Spieler beteiligen sich an Welten-Erschaffung, proaktives Rollenspielen von Schwächen, Fakten-Schaffung in Settingwelt | Alle Spieler an Spielgestaltung beteiligt |
Ein heutzutage populäres Beispiel dafür ist Fate (englisch|deutsch). Hier ist vorgesehen, dass sich alle Spieler zusammen an der anfänglichen Gestaltung der Spielwelt beteiligen können oder Fate-Punkte z. B. zum Erschaffen von Fakten in der Spielwelt ausgeben. Auch haben Charakterbögen der Spieler neben den üblichen Stärken einen Aspekt „Dilemma“, mit dem Spieler ermutigt sind, von sich aus auch Schwächen des Spielercharakters auszuspielen.
Wer übernimmt nun beim spielleiterlosen Spiel die traditionellen Spielleitungsaufgaben, wenn es keine Spielleitung gibt? Die naheliegendste Möglichkeit ist, diese Aufgaben zu rotieren oder zu verteilen.
Rotierende Spiel- oder Szenenleitung (englisch „rotating GMless“)
Bei der rotierenden Spielleitung übernimmt jeder Spieler abwechselnd für einige Zeit bestimmte Spielleitungsaufgaben. Oft sind Erzählspiele nach einzelnen Szenen strukturiert, so dass sich für die Rotation eine Szenenleitung anbietet.
Traditionell
Rotierend
Bei Fiasco z. B. werden reihum Szenen gespielt. Dabei kann man sich als Szenenleitung entscheiden, ob man
- die Szene festlegen möchte („scene framing“) oder
- das Ergebnis der Szene bestimmt.
Bei Microscope hat die Szenenleitung ein radikales Bestimmungsrecht: Sofern man den bisherigen Fakten der Settingwelt nicht widerspricht, darf man erstaunlicherweise einbringen, was man möchte.
Beispiele: Oh, das Dorf, das Du vorhin beschrieben hast? Es brennt nieder! Deine Lieblingsfigur in der Geschichte? Sie wird in der Nacht heimtückisch erdolcht!
Das mag erst mal schockieren, wenn man Microscope zum ersten Mal spielt. Jedoch ist es in der Praxis halb so wild, da die nächste Szenenleitung einfach in der Zeit zurückgehen und lange Phasen vor dem Eingriff spielen kann.
Bei so viel Bestimmungsmacht redet man von „hard scene framing“, d. h. einer strengen Szenenbestimmung. Der Szenenleitung wird dabei viel Entscheidungsgewalt über die Köpfe der anderen Spieler hinweg in die Hand gegeben.
Verteilte Spielleitungsaufgaben (englisch „distributed GMless“)
Unterschiedliche Aufgaben, die traditionell eine Spielleitung wahrnimmt, können auf verschiedene Spieler aufgeteilt werden.
Verteilt
Das in dieser Ausgabe vorgestellte All for One - Flipped RPG (englisch|deutsch) geht dabei sehr klar vor. Ein Spieler spielt eine Hauptfigur und sämtliche Spielleitungsaufgaben werden einzelnen Spielern zugeteilt:
- Architekt/in
- Historiker/in
- Nichtspieler/in (spielt alle Nicht-Spieler-Charaktere (NSC))
- Schiedsrichter/in
- Regisseur/in
Play with Intent geht bei der Verteilung der Verantwortungen nicht so streng vor. Es bringt dafür aber auch fantasievolle Aufgaben mit, die man ebenfalls verteilen kann:
- Veranstalter (stellt Raum zur Verfügung)
- Moderator (kennt sich aus)
- Alpha-Spieler (steht im Rampenlicht)
- Kreativer (kommt auf verrückte Ideen im Spiel)
- Setting-Chef (kennt sich mit der Settingwelt aus)
- Historiker (bringt Chronologie und Fakten der Erzählung zusammen)
- Caterer (sorgt für die Verpflegung)
- Organisator (koordiniert Treffen)
- Szenen-Terminator (entscheidet über Enden von Szenen)
- Stimmungsbarometer (achtet auf Pausen)
Diese Beispiele bringen eine funktionale Aufteilung von Spielleitungsaufgaben. Daneben kann man auch eine inhaltliche Aufteilung von Spielleitungsaufgaben vornehmen. So übernehmen in Archipelago (englisch|deutsch) die Spieler jeweils die Zuständigkeit (englisch „Ownership“) für Elemente der Spielwelt.
Wenn jemand z. B. in einem Science-Fiction-Spiel die Zuständigkeit für Zeitreisen hat, bestimmt dieser Spieler, wie Zeitreisen in diesem Setting aussehen und was mit ihnen möglich ist.
Gruppenkonsens statt Diktat
Neben der Möglichkeit der klaren Aufgabenverteilung gibt es noch einen Ansatz, der mir persönlich wichtig ist: den Gruppenkonsens.Wenn man sich vor Augen führt, dass das Rollenspielen in einer gemeinsamen Vorstellungswelt (englisch „Shared Imagined Space“ – „SIS“) sowieso nur durch Gruppenkonsens existieren kann, ist die gegenseitige Abstimmung auf dieser Basis auch nicht abwegig. Bei meinem Erzählspiel-System lege ich starken Wert darauf, dass Entscheidungen für das Spiel wenig auf Regelautorität, sondern auf Gruppenkonsens beruhen. Natürlich haben auch Systeme mit fester Bestimmungsautorität ihre Daseinsberechtigung. Man muss sich einfach bewusst machen, wie man am liebsten spielt.
Fazit
Es wurden hier einige Aspekte des spielleiterlosen Spiels vorgestellt. Die Unterscheidung in verteilte oder rotierende Spielleitungsaufgaben ist dabei nur eine der möglichen Vorgehensweise. Was hier gar nicht erwähnt wurde und gegebenenfalls andere Vorgehensweisen braucht, ist z. B. das Spielen von „Mysterien“ oder „Geheimnissen“ - für mich persönlich die Königsdisziplin des spielleiterlosen Spiels.
Ich hoffe, ich konnte euch ein wenig zum Rollenspiel ohne Spielleitung inspirieren. Es ist für mich eine unheimliche Bereicherung, alle Köpfe am Spieltisch an der kreativen Entwicklung der gemeinsamen Geschichte zu beteiligen. Wenn euch diese Spielweise anspricht, probiert es ruhig öfter aus!
Wenn ihr euch noch eingehender mit kollaborativem Rollenspiel beschäftigen wollt - einen Beitrag von Emily Care Boss dazu findet ihr in Ausgabe 1 von Push [PDF].