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System Does Matter – Das System ist wichtig

Von Thorsten am 16. Oktober 2018

Ron Edwards’ bekanntes Essay aus Zeiten der Forge

1.584 Wörter, ungefähre Lesedauer 8 Min.

Dieses Essay von Ron Edwards wurde 1999 veröffentlcht und hat, meiner Meinung nach, nicht an Relevanz eingebüßt. Ron teilt Rollenspiele, und auch Spielerinnen und Spieler, in drei Kategorien ein und nutzt diese, um zu argumentieren, dass es besser sei, ein Spiel zu spielen, das zur Gruppe passt – und es keinen Sinn mache, das System mit großem Aufwand umzubiegen. Die Zeit könne man nun wahrlich besser nutzen. Und ich stimme ihm zu.

Ich habe das Essay für euch übersetzt und hoffe, dass es euch ähnlich illuminiert wie mich. Viel Spaß beim Lesen!

Anmerkung

Seit fast 20 Jahren höre ich eine bestimmte Meinung über Rollenspiele immer wieder: „Es macht keinen wirklichen Unterschied, welches System verwendet wird. Ein Spiel ist nur so gut wie die Leute, die es spielen, und wirklich jedes System kann mit dem richtigen Spielleiter und den richtigen Spielern funktionieren.“ Meine Antwort darauf? Ich bin gänzlich anderer Meinung.

„Moooment“, wirst du vielleicht sagen, „mein Spielleiter Herbert kann alles leiten. Das Spiel ist vielleicht mies, aber er wirft einfach alles raus, was ihm nicht gefällt, und dann wird es spitze.“ Okay, gut. Herbert hat was drauf. Aber stell dir mal vor, wie gut er wäre, wenn er nicht so viel Zeit darauf verwenden müsste, das System auseinanderzupflücken. (Bedenke, dass ich über das System spreche, nicht über den Hintergrund oder die Geschichte.) Ich behaupte, dass ein passendes System besser ist, weil es, neben anderen Dingen, nicht Herberts Zeit verschwendet.

„Na gut“, könnte man sagen, „aber es ist und bleibt doch immer eine Frage der Vorlieben, welche Spiele gut sind. Niemand kann mit Sicherheit sagen, welche Rollenspiele besser sind als andere. Das ist einfach eine Geschmacksfrage.“ Und erneut widerspreche ich.

System-Design: Teil eins

Meine folgenden Überlegungen basieren auf den Ideen, die unter http://www.darkshire.net/~jhkim/rpg/theory/threefold/ zu finden sind, ich erweitere ihre Anwendung aber erheblich. Dort wurden drei Zielsetzungen bzw. Anschauungen vorgeschlagen, mit denen sich jeder beliebige Spieler einer Situation im Rollenspiel nähert. Es gibt mögliche Überschneidungen, aber nicht viele.

Einige Definitionen wären jetzt hilfreich. Erstens: Ich spreche über traditionelle Rollenspiele, in denen der Spielleiter ein Mensch ist und die Spieler während der Runde körperlich anwesend sind. Zweitens: Mit „System“ meine ich die Methode, mit der bestimmt wird, was im Spiel geschieht. Sie muss in zweierlei Hinsicht „funktionieren“: in Bezug auf reale, spielende Menschen und Charaktere, die fiktionale Ereignisse erleben.

Gamismus: Der Gamist ist befriedigt, wenn das System einen Wettstreit beinhaltet, den er/sie gewinnen kann. Üblicherweise tritt der Spieler gegen einen NSC an, der Spielertyp beinhaltet allerdings auch die Untertypen Systemknacker und Dominator. Rifts und Shadowrun passen beispielsweise gut zu Gamisten.

Narrativismus: Der Narrativist ist befriedigt, wenn die Rollenspielrunde eine gute Geschichte hervorbringt. Dazu passende Rollenspiele sind zum Beispiel Over the Edge, Prince Valiant, The Whispering Vault und Everway.

Simulationismus: Der Simulationist ist befriedigt, wenn das System, ohne zu schummeln, ein kleines Universum „erschafft“. Der „Realist“ ist ein bekannter Untertyp. Zu guten Spielen für Simulationisten gehören beispielsweise GURPS und Pendragon.

Ich behaupte, dass Rollenspieldesign nicht alle drei Anschauungen bzw. Zielsetzungen gleichzeitig bedienen kann. Wie lange dauert es beispielsweise in Echtzeit, das Ergebnis einer Spielhandlung zu bestimmen? Der Simulationist akzeptiert eine zeitliche Verzögerung am Spieltisch, solange dadurch die Genauigkeit des Ergebnisses erhöht wird. Der Narrativist hasst Verzögerungen, der Gamist akzeptiert Verzögerungen oder komplexe Vorgehensweisen nur, wenn er sie zu seinem Vorteil ausnutzen kann.

Und was ist eigentlich „Erfolg“? Der Narrativist fordert eine dramatische Auflösung einer Situation, der Gamist hingegen will wissen, welcher von den Spielern am Ende erfolgreicher aus der Situation hervorgegangen ist.

Und wie soll die Leistungsfähigkeit von Spielercharakteren „ausbalanciert“ werden? Dem Narrativisten ist es egal; der Simulationist will, dass das soziale System des Spiels Anwendung findet und der Gamist fordert einfach faire Bedingungen für alle.

Eines der größten Probleme, die ich in Rollenspielsystemen beobachte, ist, dass sie oft versuchen, alle drei Zielsetzungen gleichzeitig zu bedienen. Das Ergebnis davon garantiert, dass so gut wie jeder Spielertyp durch einen bestimmten Aspekt des Systems genervt sein wird. Der Spielleiter verbringt seine Zeit dann (wie im Beispiel mit Herbert) damit, die Aspekte des Systems hinauszuwerfen, die nicht zu der Gruppe passen. Ein „guter“ Spielleiter wird also als jemand definiert, der das gut kann – aber warum wird dieser mühselige Schritt nicht eliminiert, damit zum Beispiel ein gamistischer Spielleiter direkt ein gamistisches Spiel leiten kann? Ich behaupte, dass das Entwerfen eines Systems, das zu einer der genannten Anschauungen passt, im Rollenspieldesign höchste Priorität hat.

Beachtet bitte, dass ich ein bestimmtes System loben kann, weil es einer der genannten Zielsetzungen wunderbar entspricht – auch wenn ich die Zielsetzung nicht teile und das Spiel nie spielen würde. Dies ist mir wichtig zu sagen, denn jetzt habe ich einige Kriterien zur Hand, um mir ein Urteil zu bilden und nicht nur darüber zu schwafeln, „was ich mag“.

System-Design: Teil zwei

Nachdem das System nun ein Ziel hat beziehungsweise eine Aschauuung vertritt, wird es Zeit, die Methode der Konfliktlösung im Detail auseinanderzunehmen. Ich folge hier dem Vorschlag von Jonathan Tweet (im großartigen Rollenspiel Everway), der festlegt, dass es im Rollenspiel drei Modi der Konfliktlösung gibt:

Glück. Das bedeutet, dass ein Bereich von Ergebnissen für einen Vorgang möglich ist: „Ich habe mit drei Würfeln eine 10 gewürfelt, was unter meinem Fähigkeitswert von 12 liegt – getroffen!“ Die meisten Rollenspiele sind aus historischen Gründen überwiegend glücksbasiert. Verwendete Methoden sind beispielsweise Würfel, Karten und viele verschiedene andere Dinge.

Schicksal. Zwei feste Werte werden miteinander verglichen: „Ich habe eine 7 in Fechten, du hast eine 4, ich gewinne!“ Amber ist eines der wenigen schicksalbasierten Rollenspiele.

Drama. Der Spielleiter (oder seltener ein Spieler) legt das Ergebnis dadurch fest, dass er sagt, was passiert, ohne zu würfeln oder Werte zurate zu ziehen. „Du spießt ihn auf!“

Ein System kann diese Methoden natürlich miteinander vermischen und tatsächlich erlaubt Everway es dem Spielleiter, seine eigene Mixtur herzustellen. Amber vermischt seine Karma-Methodik zum Beispiel mit Drama; Extreme Vengeance seine Drama-Methodik mit Glück und Sorcerer seine Glücks-Methodik mit Drama. Einige Systeme verwenden für verschiedene Handlungen verschiedene Methodiken, beispielsweise nutzt AD&D für die Magie Schicksal und für den Kampf Glück.

Lasst uns die Glücks-Methodik als Beispiel mal genauer anschauen, weil die meisten Leute an sie gewöhnt sind: Wenn ein System zum Beispiel überwiegend auf Glück basiert, wie gut funktioniert es dann tatsächlich im Spiel? Ich schlage vor, das durch zwei Dinge zu überprüfen – die Begriffe habe ich ausgerechnet aus der Ökologie gestohlen.

Die Suchzeit: Wie lange dauert es herauszufinden, was du benötigst? Das schließt die Anzahl an Würfeln, das Berechnen von Modifikatoren, das Zusammenzählen des Ergebnisses und so weiter ein.

Die Behandlungszeit: Was passiert? Dies schließt das Vergleichen von einem Ergebnis mit anderen Ergebnissen oder einer Tabelle ein, den nächsten Schritt in einer Reihe von Dingen zu tun, Trefferpunke abzustreichen, auf Benommenheit zu prüfen und so weiter.

Ich kann selbst sicherlich nicht festlegen, wie viel von den verschiedenen Elementen zu viel oder zu wenig ist. Aber ich behaupte, dass Spieler sich berechtigterweise darüber beschweren werden, dass das System „das Spiel verlangsamt“ (der Narrativist), „unfair“ (der Gamist) oder „nicht realistisch/naturgetreu“ ist (der Simulationist), wenn das System nicht den Zielsetzungen der Spieler entspricht. Der Konfliktlösungsmechanismus eines guten Systems sollte seine Arbeit in einer angemessenen Zeitspanne erledigen. Welche Arbeit das ist und wie viel Zeit angemessen ist, hängt von der Zielsetzung ab.

Ein neuartiges Rollenspielsystem darf nicht einfach nur auf die alten Paradigmen von (1) Würlfe für Initiative, (2) Würfle, um zu treffen, (3) Würfle, um zu verteidigen, (5) Prüfe auf Benommenheit und so weiter und so weiter setzen. Das sind Überbleibsel aus der Zeit der Wargames und etwas rein für Simulationisten und Gamisten. Das Rollenspiel, das zu dir passt, sieht vielleicht ganz, ganz anders aus. In Zero zum Beispiel werden der Handlungsablauf, der Erfolg einer Handlung, der Grad an Erfolg für jede Handlung (einschließlich Schaden) und jeder andere Aspekt der Konfliktresolution durch EINEN Wurf pro Spieler und EINEN Wurf des Spielleiters festgelegt. Und zwar immer, auch bei Massenkämpfen. Das System ist für Leute, die ältere Systeme gewohnt sind, eine wahre Erleuchtung.

(Ich bin zufälligerweise ein Hardcore-Narrativist, der schicksalsbasierte Systeme mit ein bisschen Glück am meisten mag. Aber nochmals: Durch die obigen Kriterien kann ich ein System nun nach seinen Prioritäten beurteilen, anstatt einfach nur danach zu gehen, „was ich mag.“)

Abschließend

Zusammengefasst behaupte ich, dass ein gutes System seine eine Zielsetzung kennt und keine Mechaniken auf die beiden übrigen verschwendet. Seine Konfliktresolution ist seiner Zielsetzung angemessen: Die Such- und Behandlungszeit passen dazu, also, was die Spieler tun müssen und was mit den Charakteren passiert. (Man könnte sogar behaupten, dass auch die Methodik selbst thematisch passen muss wie Murmeln in Asylum und Karten in Castle Falkenstein. Ich mag diesen Ansatz, er ist aber nicht unbedingt notwendig.)

Möglicherweise ist die anhaltende Debatte „regelleicht“ gegen „regelschwer“ Zeitverschwendung. Ein System ist nicht automatisch gut, weil es komplexer oder weniger komplex als andere ist. Der Grad an akzeptabler Komplexität rührt aus der Zielsetzung des Spiels her und sollte auch nur in diesem Kontext beurteilt werden. Ein simulationistisches Spiel, das glücksbasiert ist, muss fast schon komplex sein; ein narrativistisches, karmabasiertes Spiel ist jedoch mit einem einfacheren System befriedigender.

Bitte zieht in Betracht, selbst einige Systeme miteinander zu vergleichen, bevor ihr auf meinen Text zu heftig reagiert. Ich respektiere eure Meinungen, es spielt aber, der Fairness halber, eine Rolle, wie viele Rollenspiele ihr wirklich schon gespielt habt. Das bedeutet echte Geschichten und Spielrunden mit Charakteren, die von Spielern erschaffen wurden. Keine Demorunden auf Cons oder nur mal ein schneller Kampf. Ich vermute, dass diejenigen, die mehr als fünf oder zehn Rollenspiele ernsthaft gespielt haben, mir zustimmen werden:

Die Aussage „Das System ist unwichtig.“ ist ein Mythos.

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