Mechanical Oryx: Übersetzung, Actual Play und Notizen
Illustrierte Übersetzung, Actual Play und Notizen zum 200-Wörter-Spiel von Grant Howitt über einen steinbockartigen Roboter mit Macht, aber auch viel Verantwortung.
1.481 Wörter, ungefähre Lesedauer 7 Min.
Mechanical Oryx: Übersetzung, Actual Play und Notizen
von Thorsten und Tina
Diese deutsche Übersetzung steht, wie das Original, unter der LizenzCreative Commons Namensnennung 4.0 International.
Mechanical Oryx von Grant Howitt ist eines der drei Gewinnerspiele der diesjährigen 200 Word RPG Challenge. Ich hatte bei der Planung des Zines schnell die Idee, regelmäßig Spiele der Challenge zu präsentieren. Mir gefiel Mechanical Oryx am besten, deshalb geht es damit los. Weiter unten findet ihr mein Solospiel sowie Eindrücke und Hinweise.
Übersetzung
MECHANISCHER ORYX
von Grant Howitt
Du besitzt viele surrende Augen und wunderschöne, starke Läufe mit stählernen Sprungfedern. Du wurdest vor langer Zeit erschaffen, als die Städte noch existierten.
Etwas geht von dir aus: Pflanzen, Licht, Musik, Wärme, Macht, Wissen, Rost oder etwas ganz anderes. Je länger du an einem Ort verweilst, desto intensiver wird es. Du bist mit drei Modulen ausgestattet, teile uns mit, welche das sind.
Du bewegst dich zwischen den grünen Orten, an denen sanfte, braunhäutige Menschen Bäume mit Früchten pflegen und Lieder singen, die sie nicht verstehen.
Sie beten: VERTREIBE DEN FLUCH, DER AUF UNSEREM DORF LIEGT. VERNICHTE DIE SCHEINGESTALTEN, DIE UNS PLAGEN. LEHRE UNS DAS LIED, DAS DIE FRÜCHTE REIFEN LÄSST.
Wenn die Auswirkungen einer Handlung nicht klar sind, würfle 2W6 und verbrauche Treibstoff. Ist das Ergebnis 7 oder mehr, erreichst du dein Ziel. Wenn du einen Pasch würfelst, ergeben sich unerwartete Probleme und etwas geht auf immer verloren.
Wenn du voller Liebe handelst, würfle 1W4+1W6. Handelst du voller Hass, würfle 3W6.
Du besitzt 10 Einheiten Treibstoff. Sind sie aufgebraucht, bewegst du dich nicht mehr.
Wenn du ein Modul verwendest, ersetze einen W6 durch einen W8. Ist das Würfelergebnis eine 8, wird das Modul zerstört.
Zufriedene und glückliche Menschen errichten Schreine voller Treibstoff und Module für dich. Ohne diese Schreine wirst du zu einem gefährlichen Plünderer, einer Scheingestalt.
Actual Play
Thorsten hat das Spiel separat sologespielt und seine Ergebnisse festgehalten. Wir wünschen viel Spaß damit!
Der Lauf der Natur
Was geht von mir aus? Wärme
Module: Medizinischer Scanner, Flammenwerfer, Selbstverteidigung
Treibstoff: X (X X X X X X X X X)
Ich bewege mich leise durch das Unterholz des purpurnen Waldes. Gerade so weit von den Menschen entfernt, dass ich sie gut beobachten, sie mich aber nicht entdecken können. Meine mechanischen Augen surren leise, als ich meinen Blick durch die Ansammlung von Obstbäumen schweifen lasse, zwischen denen die Menschen emsig hin und her laufen.
Plötzlich vernehmen meine Audiosensoren ein leises Wimmern, etwa 20,7 Meter östlich von mir. Ich will mich vorsichtig in die Richtung schleichen [2W6: 4, 1 Treibstoff], in der ich ein Menschenkind vermute, trete aber auf einen trockenen Ast, der ein lautes KNACK! von sich gibt. Der Kopf des schluchzenden Kindes ruckt herum und es schiebt sich weiter hinter den Baumstamm, neben dem es Schutz gesucht hatte. Ich senke meinen Oberkörper auf Höhe des Kindes, um ihm zu signalisieren, dass ich keine Gefahr für es bin. Meine Absicht ist nobel, leider versteht das Menschenkind die Geste nicht [1W6+1W4: 4, 1 Treibstoff] und bewirft mich mit einem Stock. Damit kann es mich nicht beschädigen, also lasse ich mich im Unterholz nieder, um erneut das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. Wieder habe ich keinen Erfolg [1W6+1W4: 5, 1 Treibstoff], ich werde weiter misstrauisch beäugt.
Ich scanne das Kind aus einiger Entfernung [1W6+1W8: 11, 1 Treibstoff] und erkenne, dass es nicht schwer verletzt ist. Ich erhebe mich also wieder, drehe mich langsam um und schreite zum nächstgelegenen Obsthain, um die Menschen dort aufmerksam zu machen. Ich nähere mich langsam und warte, bis eine der Erwachsenen mich entdeckt. Sie zeigt Zurückhaltung, aber keine Angst, und bedeutet mir dann, näherzukommen. Ich trete bis auf wenige Schritte an sie heran und projiziere eine Aufnahme des verletzten Kindes zwischen uns. Sie keucht laut auf, wendet sich zu einem Mann um und spricht schnell einige Worte zu ihm. Er nickt, tritt zu mir heran und zeigt mit fragendem Blick in den Wald. Ich nicke zurück und wende mich um. Ich blicke noch ein Mal zurück, damit sie mir folgen.
Ich führe die beiden Menschen zu der Stelle, wo das Kind eben noch gelegen hatte. Es ist nicht mehr da. Ich scanne den Baum, an dem das Kind gelehnt hatte, nach DNA [1W6+1W8: 11, ein Treibstoff] und finde Blutspuren, die ich zur Suche verwenden kann. Die Menschenfrau schluchzt laut hinter mir auf, der Mann hingegen stößt einen wütenden Laut aus. Sie legt eine Hand auf meine metallene Schulter und schaut mich flehend an. Ich nicke ihr zu, auch dem Mann, und mache mich auf die Suche nach dem Kind. Dass die Blutprobe auch Spuren einer synthetisch-metallischen Verbindung enthält, teile ich besser nicht mit.
Mit kräftigen Sprüngen meiner starken Läufe haste ich durch das Unterholz und scanne permanent meine Umgebung [2W6: 10, 1 Treibstoff]. Nach wenigen Minuten bemerke ich im Geäst eines grünen alten Baumes eine flinke Bewegung. Meine visuellen Sensoren erfassen zwei sehr unterschiedliche Formen: einerseits den Körper eines Menschenkindes und eine metallische Gestalt mit sechs Beinen. Das Kind hängt zusammengeschnürt im Baum, eingesponnen mit silbrig glänzenden Fäden, bis auf die Nasenlöcher ist sein Körper bedeckt. Am Hals hat sich ein dunkler Fleck gebildet, der sich langsam ausbreitet. Ich taste das Kind mit meinem medizinischen Scanner ab [1W6+1W8: 11, 1 Treibstoff] und erkenne, dass an der sich dunkel verfärbenden Stelle etwas injiziert wurde, das sich langsam, aber sicher, ausbreitet. Ein Gefühl von Traurigkeit steigt in mir auf, weil mir schnell bewusst wird, dass die Vergiftung schon sehr weit vorangeschritten ist – zu weit. Ich kann das Kind nicht mehr retten. Ich drehe meinen Kopf in Richtung der nachgekommenen Eltern und schüttele den Kopf. Die Menschenfrau verbirgt daraufhin ihr Gesicht in ihren Händen und der Mann ballt wütend seine Fäuste. Er wendet sich nicht ab.
Ich drehe mich zurück zum Baum, nehme Anlauf und springe in das Geäst des Baumes, um beide Körper mit meinen Hinterläufen auf den Boden zu stoßen [2W6: 9, 1 Treibstoff] und aktiviere dann meinen Feuerstrahl, um den Jäger und sein Opfer zu verbrennen. Es steigt eine heiße Wut in mir auf, weil das Kind noch sein ganzes Leben vor sich hatte. [3W6: 13, 1 Treibstoff] Satt Gelb mit einer Spur von Weiß in der Mitte schießt mein Feuerstrahl auf sie zu, leckt an ihnen, verschmilzt metallene Fäden mit Stoff, verbrennt Haut und zerstört Metall. Die Feuchtigkeit des Bodens verhindert, dass das Feuer auf den Rest des Waldes übergreifen kann, beide Körper rollen sich wild herum. Das Kind schreit und schlägt um sich, während der metallene Körper sich auf den Rücken wirft und seine sechs Beine sich zur Körpermitte hin zusammenziehen. Dann ist es vorbei.
Unendliche Trauer geht von den Menscheneltern aus, als ich mich herumdrehe und langsam zu ihnen zurückkehre. Der Vater hält seine Frau fest umschlungen, sie weint leise in seine Brust. Ich lasse mich auf den Boden nieder und warte eine lange Zeit, bis die Frau sich etwas beruhigt hat. Inzwischen wird es langsam wieder hell und immer mehr Menschen aus dem Obsthain erscheinen bei dem trauernden Ehepaar, um ihnen Trost zu spenden.
Ich beobachte die Zusammenkunft eine Weile mit meinen roten, leise sirrenden Augen. Ein älterer Mann bedeutet mir, ihm zu folgen und führt mich zu einem Zelt, in dem ich meinen Treibstoff nachfüllen lassen kann. Dann kehre ich zur Trauergemeinde zurück, nicke dem Menschenpaar zu und ziehe mich in den Wald zurück. Trauer umfängt mich, als ich mich entferne, und mir wird wieder schmerzhaft bewusst: Das ist der Lauf der Natur.
Eindrücke
Thorsten
Ich war nach dem ersten Lesen des Spiels zwiegespalten: Da stand ziemlich wenig drin, es wurde mehr weggelassen, als alles andere, es gab kaum eine vorgegebene Geschichte. Nach Abschluss der Übersetzung sprachen Tina und ich darüber und waren kurz davor, ein anderes Spiel für diese Ausgabe zu wählen. Dann lasen wir beide uns den kurzen Text erneut ein paar Mal durch und waren beide überrascht, wie Mechanischer Oryx uns doch packte. Wir entschieden dann, zur Übersetzung noch eine Solositzung reinzunehmen.
Es fiel mir zunächst schwer, eine Richtung für die Geschichte zu finden. Wie in ähnlichen Situationen auch, fing ich dann einfach an und schaute, was sich ergab, inspiriert von den schönen Worten Howitts. Wo ich zuerst dachte, dass Grant da einen ganz schönen „Lückentext“ hingelegt hatte, merkte ich doch schnell, dass gar nicht so viel mehr Detail nötig war, um eine Geschichte in Gang zu bringen. Das Ding hierbei ist eben, dass keine Geschichte vorgeschrieben ist, sondern nur einige „Zutaten“. Mensch muss sich selbst eine Geschichte suchen beziehungsweise erfühlen. Wie schon öfter erwähnt, kann eine solche Freiheit auch einschüchtern und blockieren. Die meisten Rollenspieler sind es wahrscheinlich nicht gewohnt, einen so großen Einfluss ausüben zu „müssen“. Wer sich aber gerne Geschichten ausdenkt oder eh Indyspiele wie Microscope zockt, wird mit Mechanischer Oryx seinen Spaß haben.
Vielleicht spiele ich Mechanischer Oryx auch mal mit weiteren Leuten. Dann aber wahrscheinlich als kleine Abwechslung zwischendurch. So lange dürfte eine Sitzung im Zusammenspiel nicht dauern.